Aus „Tödliche Verteidigung“
Mordanklagen sind selten. Wer einen Menschen tötet, ist nach unseren Gesetzen noch kein Mörder. Seine Tat nennen wir einen Totschlag. Erst wenn zu dieser Tat besondere Merkmale hinzukommen, Heimtücke zum Beispiel, Habgier oder Grausamkeit, dann sprechen wir von einem Mord. Die Rechtsprechung stellt hohe Anforderungen an den Nachweis der Mordmerkmale. Schließlich gibt es bei Mord nur eine Strafe: Lebenslänglich. Anders als viele meinen, bedeutet lebenslängliche Haft nicht automatisch fünfzehn Jahre. Lebenslänglich ist wörtlich zu verstehen. Ein Leben lang hinter Gittern. Natürlich ist auch bei einem Mörder nicht ausgeschlossen, dass die Strafe irgendwann einmal zur Bewährung ausgesetzt wird. Oft ist dies aber erst nach zwanzig oder fünfundzwanzig Jahren der Fall, und nicht wenige lebenslange Freiheitsstrafen werden tatsächlich bis zum Ende verbüßt. Wer als Mörder angeklagt wird, der hat es deshalb verdient, dass man jeden Strohhalm zu seinen Gunsten ergreift und keinen Aufwand scheut, um die Tat wenigstens doch noch als Totschlag darstellen zu können. Die Staatsanwälte wissen das für gewöhnlich. Wer die Tötung eines Menschen als Totschlag anklagt, der hat leichtes Spiel. Wer aber einen Mord anklagt, der muss sich warm anziehen. Nirgendwo wird so gekämpft wie in Mordprozessen. Keine Straftat fordert so unbedingt den vollen Einsatz des Verteidigers wie der Mord. Strassmann hatte es geschafft. Er war der Anstiftung zum Mord angeklagt. Und da der Anstifter nach dem Gesetz dem Täter gleichsteht, hatte er dasselbe zu erwarten wie ein Mörder. Aber die Anklageschrift war nicht das, was ich erwartet hatte. Die Staatsanwaltschaft hatte sich nicht die Mühe gemacht, jedes Detail durch Beweise zu belegen. Sie hatte sich nicht abgesichert dagegen, dass die Verteidigung wirklich angreift, jeden Satz, jedes Wort mit der Goldwaage prüft, Zeugen zu widerlegen sucht, eigene Zeugen präsentiert, Sachverhalte in Zweifel zieht und Beweise verlangt, unumstößliche, nachvollziehbare Beweise. Die Mordanklage gegen Strassmann stützte sich auf Vermutungen und unbewiesene Behauptungen. Es war ein Sammelsurium aus Hypothesen und möglichen Schlussfolgerungen, aufgebaut auf wenigen belanglosen Indizien. Das erste Indiz war das Foto von Strassmanns Frau. Ich brauchte lange, bis ich den dahinter stehenden Gedanken überhaupt verstand. Wahrscheinlich hätte ich den entscheidenden Satz der Anklage sogar überlesen, aber auch Strassmann hatte dieses rätselhafte Foto schon besonders betont. Es handelte sich um das Foto, das in Strassmanns Zelle beschlagnahmt worden war. Bei seiner Einlieferung in das Gefängnis hatte er es noch nicht bei sich gehabt, das stand fest. Da mein Mandant in der Haft nie Post empfangen hatte, war daher zumindest zu folgern, dass irgendjemand dieses Foto heimlich zu Strassmann in die Justizvollzugsanstalt hinein geschmuggelt hatte.