Leseprobe

Aus „Crucenia Code“

So nahte der 2. Juni, der Himmelfahrtstag. Von diesem Feiertag an waren es lediglich noch drei Tage bis zur Wahl. Ich hatte ihn ausersehen zur würdevollen Neueröffnung der frisch renovierten Römerhalle.
Wie jeder Dexheimer von Bedeutung, begann ich den Tag mit der Messe in St. Nikolaus. Anschließend begaben wir uns zum Ort der Feierlichkeiten. Nicht zu Fuß, sondern mit dem Auto, möglichst alle mit einem eigenen. Dies geschah aus mehreren Gründen. Zum einen scheint es mir in Bad Kreuznach generell verpönt, irgendwo nicht mit dem Auto zu erscheinen. Wir fahren lieber eine halbe Stunde parkplatzsuchend umher, als selbst kleinere Strecken zu Fuß zu gehen.
Zum anderen ging es bei dem bevorstehenden Ereignis vorwiegend darum, öffentlichkeitswirksam Präsenz zu zeigen. Wer sich mit einer stattlichen Zahl an Limousinen, Cabrios oder Sportwagen umgibt, erlangt damit in den Augen eines Kreuznachers unweigerlich Bedeutung.
Einfach zu radeln wäre in unserer Stadt keine Attitüde eines erfolgreichen Politikers. Es wirkte viel zu weiblich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Politiker, der sich in der Stadt mittels eines Fahrrades fortbewegt, es in irgendeine nennenswerte Position schaffen könnte. Deshalb mussten selbstverständlich meine zahlreichen Verwandten den Platz vor der Römerhalle mit glänzenden Nobelkarossen zuparken. So gewinnt man Wählerstimmen!
Anschließend begrüßten wir uns händeschüttelnd, klopften uns gegenseitig stolz die Schultern, palaverten und gestikulierten, um den Zuschauern ein angemessenes Schauspiel zu liefern.
Auf einem Fahrrad kam eine weitere Besucherin meiner Eröffnung daher. Alle Männer drehten sich nach ihr um, wie sie dies immer tun bei Frauen mit blonder Löwenmähne. Ich kannte die Dame flüchtig. Sie war vor einiger Zeit zugezogen aus einer Stadt im Rheinland, die nicht annähernd die Bedeutung von Bad Kreuznach hat. Aktuell war sie auf der Kandidatenliste einer Partei, würde also möglicherweise bald eine meiner Kolleginnen im Stadtrat sein. Im vollen Bewusstsein meiner überragenden Wichtigkeit an diesem Tag wandte ich mich ihr huldvoll zu.
„Schön, dass Sie auch gekommen sind“, begrüßte ich sie. „Es würde mich freuen, Sie nachher bei meinem Empfang im Gutshof der Familie Dexheimer begrüßen zu können. Aber wenn ich Ihnen einen gutgemeinten Ratschlag geben darf: Gewöhnen Sie sich das Radfahren in unserer Stadt besser ab, falls Sie es in der Kommunalpolitik zu etwas bringen wollen. Wer hier eine politische Karriere anstrebt, sollte ein repräsentatives Auto fahren. Mit einem Fahrrad, das prophezeie ich Ihnen, werden Sie niemals eine führende Position in Bad Kreuznach erreichen, allenfalls einen Stellvertreterposten im Ausschuss für Nachholbedarf. Was Ihnen fehlt, ist ein richtig heißer Ofen.