Leseprobe

Aus „Rheingold! Reines Gold

Meine Methode der Aktenauswertung war denkbar unkompliziert und hieß: Kerstin. Die hatte sich im Laufe der Zeit als Genie auf diesem Gebiet entpuppt. Sie scannte die Vorgänge ein, um sie anschließend am Rechner weiter zu bearbeiten. Dabei deckte sie Zusammenhänge ebenso wie Widersprüche zuverlässig auf, trennte Wichtiges von Unwichtigem und mailte mir am Schluss eine elektronische Akte zu, die mit vielerlei Notizen und Markierungen bereits bestens aufbereitet war.
Anfangs hatte ich Bedenken gehabt gegen dieses von Kerstin selbst eingeführte System. Denn das Aktenstudium erfordert Inspiration. Die Akte ist das wesentliche Arbeitsmaterial des Strafverteidigers. Beim Lesen einer Strafakte entscheidet sich, ob man Verteidigungsansätze findet oder eben nicht. Wenn ich einen Vorgang gelesen habe, ohne an einzelnen Stellen wenigstens den Hauch eines diffusen Kribbelns zu spüren, dann weiß ich, dass der Fall aussichtslos ist.
Es bedurfte daher schon einiger Überwindung, einen wesentlichen Teil meiner Arbeit einfach auf eine Angestellte abzuwälzen. Im Verlauf unserer Zusammenarbeit hatte ich Kerstins System jedoch als effektiv und hilfreich schätzen gelernt. Ich vertraute ihr völlig, sie hatte sich in zahlreichen Scharmützeln als verlässlich bewährt.
Nach Kerstins Vorarbeit bestand meine Aufgabe darin, die virtuelle Akte gemütlich auf einem Tablet-PC zu lesen. Dies tat ich bequem zu Hause, vorzugsweise auch in einem Bistro oder Straßencafé, regelmäßig mit einem Glas Wein, gerne sogar mit mehreren. Wein entspannt und inspiriert, genau die Eigenschaften, die zum Lesen benötigt werden.
Deshalb waren schmale Akten relativ langweilig. Die Dauer ihrer Lektüre betrug allenfalls zwei Gläser. Reizvoller fand ich die dicken Wälzer, zu denen man eine ganze Flasche trinken konnte. Kurzum: Das Aktenstudium war nicht der unattraktivste Teil des Anwaltsdaseins, seit Kerstin diese Beschäftigung perfektioniert hatte.
Der Fall Mathilda Griem stellte insofern eine Ausnahme von diesen immergleichen Abläufen dar, als meine Mitarbeiterin nur sehr sparsame Vermerke geschrieben hatte. Offensichtlich war sie mit diesem Vorgang nicht klargekommen, was vor allem daran lag, dass es überwiegend um psychiatrische Analysen ging. Strafrechtlichen Gehalt hatte die Akte eher wenig. Obwohl es sich um einen Mordfall handelte.
Denn Mathilda Griem, das erstaunte mich nun selbst, hatte vor ihrer Einweisung in die Landesnervenklinik wegen Mordes vor dem Schwurgericht in Koblenz gestanden. Ihr Opfer sollte ein Mann namens Siggi Welsung gewesen sein. Zu allem Überfluss nicht nur irgendein Mann, sondern der ihr gesetzlich angetraute. Er war eines gewaltsamen Todes gestorben, die detaillierteren Umstände blieben ungeklärt. Man hatte ihn mit einer tödlichen Stichverletzung im Rücken gefunden. Bei ihm gewesen war Mathilda.
Ihr Zustand hatte laut Aktenlage lethargisch gewirkt und damit verdächtig. Mehrere Polizisten hatten sie als völlig entrückt geschildert. Entrückt in zweierlei Hinsicht, nämlich einerseits der Realität entrückt, andererseits schlichtweg wahnsinnig, wobei die Grenzen wohl fließend sind.
Kriminalisten brauchen häufig nur einen Namen, den Rest reimen sie sich nach Bedarf zusammen. Wenn die Polizei eine Leiche findet und bei dieser eine Person, deren Verhalten aus welchen Gründen auch immer auffällig erscheint, dann muss schon viel passieren, um eine ganz bestimmte Schlussfolgerung zu vermeiden. In Mathildas Fall war nicht viel passiert, folglich hatte sie kurzerhand den Status einer Tatverdächtigen erhalten.
Die Tatwaffe blieb unentdeckt, brauchbare Spuren hatte der Fundort des Toten nicht zu bieten. Genau jene Frau jedoch, die von den Ermittlern vor Ort ausdrücklich als apathisch und geistesabwesend bezeichnet worden war, hatte noch am Tatort ein Geständnis abgelegt. Postwendend war deshalb aus der Tatverdächtigen die Beschuldigte in einem Mordverfahren geworden, und das Schicksal nahm seinen Lauf. Den Lauf, den es meistens nimmt, sobald die sich selbst als objektivste Behörde der Welt bezeichnende Staatsanwaltschaft tätig wird und kein Verteidiger dagegen ankämpft.
Als Mathilda erstmals ein Rechtsanwalt zur Seite gestellt wurde, war sie bereits vor dem Schwurgericht angeklagt. Ihr Anwalt, ein reiner Urteilsbegleiter, ein aus den Reihen willfähriger Pflichtverteidiger ausgewählter Taugenichts, hatte seine Bemühungen darauf beschränkt, ein Gutachten zur Schuldfähigkeit der mutmaßlichen Täterin zu beantragen – und damit den Höllenschlund geöffnet.
Früher waren Schuldfähigkeitsgutachten noch eine halbwegs sichere Bank der Verteidigung. Man zweifelte ein wenig, das Gericht zog vorsorglich einen Sachverständigen bei und heraus kam regelmäßig, dass eine Einschränkung der Schuldfähigkeit nicht vollständig ausgeschlossen werden könne. Kein Wunder, denn wer Kapitalverbrechen begeht, hat aus meiner Sicht niemals alle Tassen im Schrank.
Da eingeschränkte Schuldfähigkeit für gewöhnlich zu einer milderen Strafe führt, handelten Verteidiger der alten Schule wenigstens nicht völlig falsch, wenn sie diesen Weg beschritten.