Aus „Tödliche Verwandtschaft“
Was mich wirklich betroffen machte, war diese Würdelosigkeit. Er saß nach vorne gebeugt auf seinem Stuhl, der Kopf lag auf der Schreibtischplatte, um seinen geöffneten Mund wölbten sich die Wangen faltig nach innen. Eine Hand hing seitlich schlaff herab, in der anderen hielt er noch immer eine Pistole, von den Fingern nur noch kraftlos umfasst. Nie zuvor hatte ich ihn, der immer um Haltung bemüht gewesen war, so haltungslos gesehen.
Beim Herantreten an den Schreibtisch nahm ich erleichtert zur Kenntnis, dass er mit der durchschossenen Schläfe auf den Tisch gefallen und die Wunde daher nicht sichtbar war. Nur ein großer dunkler Blutfleck deutete das Geschehene an, der aber bei dem schummrigen Licht auf dem tiefbraunen Holz des Schreibtisches kaum zu erkennen war.
Die Arbeitsfläche war ordentlich aufgeräumt wie immer. Auf der Seite, zu der seine leeren Augen schauten, standen eine Flasche Wein und ein großes Rotweinglas. Ich warf einen Blick auf das Etikett. Er hatte einen 1937er Pinot noir von der Domaine de la Romanée Conti geöffnet, meines Wissens ein Wein, der einen fünfstelligen Eurobetrag kostete.
Die Flasche war exakt bis zur Hälfte geleert. Das Glas, aus dem er getrunken hatte, zweifellos ein Riedelglas und als einziges einem derartigen Bordeaux Grand Cru angemessen, funkelte am Boden in dunklem, sehr tiefem Rubinviolett. Aromen waren nicht mehr wahrnehmbar, woraus ich schloss, dass der Tod schon vor mehr als einer Stunde eingetreten sein musste.
Zuletzt miteinander telefoniert hatten wir um die Mittagszeit. Er hatte mich gebeten, an diesem Abend pünktlich um 18 Uhr bei ihm vorbei zu kommen, um Wichtiges zu bereden.
Vorsichtig hob ich die Flasche an, führte sie sehr schräg zu dem Glas und goss etwa 110 ml Wein in das Trinkgefäß, das ohne weiteres die Menge einer ganzen Flasche hätte fassen können. Ich schwenkte das Glas ganz leicht in großen Kreisen gegen den Uhrzeigersinn, wodurch sich die konzentrierten, reichhaltigen Aromen des Weines entfalteten und präsentierten. Es waren würzige und mineralische Noten, begleitet von einem zarten Rauchton.
Als ich das Glas prüfend gegen das gedämpfte Licht der Schreibtischlampe hielt, fiel mein Blick erneut auf die Blutlache, die exakt den gleichen Farbton hatte wie der Wein.
„Blut ist nicht dicker als Wein“, dachte ich, weil ich irgendetwas ja denken musste. Dann betrachtete ich einige Zeit versonnen diese Farbreflexe, hob das Glas schließlich an meinen Mund und murmelte kaum vernehmbar dem Toten einen Trinkspruch zu: „Salve pater familiae!“
Schließlich, als dieser unwiederbringliche Wein in kleinsten Schlückchen meinen Gaumen liebkoste, kam der Schmerz über den Verlust. Sein Leben war dahingegangen. Unfähig mich dieses Gefühls zu erwehren, sank ich auf einen Sessel vor dem Schreibtisch nieder. Tränen wollten fließen, aber er hätte es nicht ertragen, mich weinen zu sehen, deshalb rang ich zitternd um Fassung, verkostete diesen einmaligen Wein und gab mich meinen Erinnerungen hin.
Mein Eindruck war, dass sich hier soeben ein Kreis geschlossen hatte. Hinter mir lagen Monate voller Anspannung und Chaos. Mir schien, als hätte ich gerade das schlimmste Jahr meiner Anwaltskarriere hinter mir. Heute weiß ich, dass jedes Jahr schlimmer ist als die Jahre davor. Ruhe und Beschaulichkeit gibt es in diesem Beruf nicht.
Ich nahm ein weiteres Schlückchen von dem Wein, schloss die Augen und dachte zurück.